Der lebenslauf


Etwas, das jeden angeht

 

      »Das Thema Biographie betrifft einen jeden von uns. Nicht nur um das eigene Leben und den persönlichen Weg geht es dabei, sondern auch um den Versuch zu verstehen, wie eigenartig und vielgestaltig sich das Leben anderer Menschen entfaltet.

Selbsterkenntnis und Welterkenntnis sind hier untrennbar miteinander verquickt. Wir leben in einer Welt, die voll ist von Menschen jeden Alters, jeder Art.  Unser Schicksal wird bestimmt und ermöglicht, aber auch beschnitten durch das Leben anderer, seien sie nah oder fern, und ebenso beeinflußen wir das ihre.  Jeder hat seinen eigenen Lebensfaden; alle Fäden zusammen werden zu dem Stoff verwoben, der die sich fortentwickelnde menschliche Gesellschaft ausmacht.

      Wenn wir uns mit den Lebensmustern befassen, sollten wir Folgendes festhalten: Die Muster sind dynamisch, voller Möglichkeiten und von vielen Faktoren abhängig.  Kräfte aus der Vergangenheit sind am Werk.  Das Gewesene ist gegenwärtig; die Zukunft ist zugleich jetzt.  Was sein wird, wirft seine Schatten voraus.  Aus den Augen junger Mädchen leuchten schon die künftigen Kinder.  Und in der Aura junger Menschen ist schon anwesend, was sie später vollbringen werden.  Mit solchen Dingen muß man rechnen.

      Und dann gibt es das Archetypische, Urbildhafte, das, worin wir alle gleich sind.  Diesen Gedanken überspielen wir natürlich gerne, er ist uns nicht sympathisch, vor allem nicht in unserer Gegenwart, wo die »Persönlichkeit« mit ihren Philosophien der Einsamkeit und des Existentialismus ein so hohes Ansehen genießt.

      »Ich bin einzigartig«, »Ich und die Welt«, »Keiner muß so viel ertragen wie ich, keiner versteht mein Schicksal« – diesen empathischen Beteuerungen stehen überall die Stereotypen der Kleidung, der äußeren Erscheinung, der Verhaltensweisen und Ansichten gegenüber.  Dennoch fühlt sich jeder allein und jammert in seiner privaten Wüste.  Und dabei scheinen wir alle in Unschuld blind und achtlos an der Tatsache vorüberzugehen, daß unser Leben als ein Drama abrollt, dessen Text schon in groben Zügen geschrieben steht.  Der Fluß der Zeit trägt die einsamen Kajaks der Persönlichkeit dahin.  Natürlich können wir schneller paddeln oder nach links oder rechts steuern, uns im Kreis drehen oder umkippen.  Aber der Kurs ist festgelegt.  Das Flußbett ist so alt wie die Zeit selbst.

      Unter diesen Umständen sind äußere Freiheiten offensichtlich trügerisch.  Was uns wirklich frei macht, ist nicht der Weg, den wir gehen, sondern das, was wir spirituell im Innern tun, in der Einsamkeit, in der inneren Wüste.  Der Lebenskurs ist festgelegt.  Wir werden älter, denken, fühlen und handeln anders, und alles geschieht nach einem Plan.

      Wie ist nun dieser Lebensfluß beschaffen?  Was hat es auf sich mit Jugend, Reifezeit und Alter?  Können wir von dem, was uns erwartet, nichts wissen?  Und wie steht es mit dem Archetypischen?«

 

Aus: Der Lebenslauf   George & Gisela O´Neil, Florin Lowndes,  2014 Verlag Freies Geistesleben