Beruf mensch

… Wer nämlich gut baut, wird dadurch ein guter Baumeister, und wer schlecht baut, ein schlechter. Wäre es nicht so, so bedürfte es keines Lehrers, sondern jeder käme als Meister oder als Stümper auf die Welt. Grade so ist es auch mit den Tugenden. … Durch das Verhalten in Gefahren und die Gewöhnung, vor ihnen zu bangen oder ihnen zu trotzen, werden wir mannhaft oder feige. Und ganz ebenso ist es mit den Anlässen zur Begierde oder zum Zorn: die einen werden mäßig und sanftmütig, die anderen zügellos und jähzornig, je nachdem sie in solchen Fällen sich so verhalten oder so, mit einem Wort: aus gleichen Tätigkeiten erwächst der gleiche Habitus.  Daher müssen wir uns Mühe geben, unseren Tätigkeiten einen bestimmten Charakter zu verleihen; denn je nach diesem Charakter gestaltet sich der Habitus. Und darum ist alles daran gelegen, ob man gleich von Jugend auf sich so oder so gewöhnt; vielmehr kommt hierauf sehr viel, oder besser gesagt, alles an.

Aristoteles (384-322 v. Chr.), Nikomachische Ethik, 1103 a/b  

    

    Wahres Menschsein ist eine Kulturleistung des Individuums und keine Naturgegebenheit.  Wer ein wahrer Mensch sein möchte, muß sich darin üben wie der »gute Baumeister«.  Nur in innerem Ringen kann der Einzelne wahres Menschsein erschaffen – täglich neu im Hier und Jetzt.  Dafür braucht es solide Kenntnisse und Übung wie in jedem anderen Beruf. Bereits vor über 2300 Jahren beobachtete Aristoteles zu diesem Zwecke sorgfältig die Eigenschaften seiner Mitmenschen und systematisierte seine Erkenntnisse in der Nikomachischen Ethik. Dabei stellte er fest, daß es von annähernd jeder menschlichen Eigenschaft ein rechtes Maß, ein Übermaß und einen Mangel gibt.

 

»Übertriebene Körperübungen ebenso wie unzureichende führen den Verlust der Leibeskraft herbei. Desgleichen verdirbt ein Übermaß oder ein unzureichendes Maß von Speise und Trank die Gesundheit, während das rechte Maß sie hervorbringt, stärkt und erhält.  Ebenso ist es auch mit der Mäßigkeit, dem Starkmut und den anderen Tugenden.  Wer alles flieht und fürchtet und nichts erträgt, wird feig, dagegen wer gar nichts fürchtet und gegen alles angeht, tollkühn. Desgleichen wird, wer jede Lust genießt und sich keiner enthält, zügellos, wer aber jede Lust flieht, wie die sauertöpfischen Leute, verfällt in eine Art Stumpfsinn. Denn Mäßigkeit und Starkmut werden durch das Zuviel und Zuwenig aufgehoben, durch die rechte Mitte aber erhalten.«    ebda, 1104 a 

 

    Aristoteles Erkenntnisse bildeten die philosophische Grundlage für den über Jahrhunderte genutzten Kanon der 12 zu erstrebenden Tugenden und der 7 zu meidenden Todsünden in der christlichen Welt.  In Worten, vor allem aber in den Bildern der Kirchen waren diese Inhalte den Menschen allgegenwärtig.  In ihnen konnten sie Orientierung finden für ihre individuelle Entwicklung zum wahren Menschsein.  Es ist selbstverständlich, daß mit solchen Kenntnissen Machtmißbrauch getrieben wurde und werden kann.  Denn der Mensch ist ja kein programmierter Automat, sondern trägt in seiner Seele stets die Wahlmöglichkeit, die Mitte oder eine der beiden Schattenseiten zu verwirklichen. In unserem Zusammenhang betrachten wir vor allem den aus dem ICH bewußt gewählten Entwicklungsweg zu den Lichtseiten, ohne die Schattenseiten dabei aus dem Auge zu verlieren.

 

    Aristoteles ist auf dem Weg der nüchternen Beobachtung seiner Mitmenschen zur Erkenntnis der menschlichen Tugenden und Untugenden gelangt.  Darauf aufbauend kann man genauso systematisch heute noch einen Schritt weitergehen.  Man kann den Menschen nämlich nicht nur sinnlich wahrnehmen, sondern ihn auf der Grundlage der Systematik des ganzen Menschen, wie sie in der Anthroposophie dargestellt wird,  »aurisch anschauen« und verstehen lernen.  Der Gewinn für jeden Einzelnen ist:

1. Sich ein konkretes, ganzheitliches Menschenbild zu erwerben

2. Eine breite Menschenkenntnis zu schulen

3. Orientierung für die eigene Entwicklung zu finden

4. Zu erlebter Erkenntnis zu gelangen

5. Kreative und eigenständige Ideen entwickeln zu können für Pädagogik, Therapie, Kunst, Selbstentwicklung usw., die aus der konkreten Anschauung des individuellen Menschen erwachsen

6. Sich selbst systematisch ausbilden zu können im BERUF MENSCH.

 

Profession Human Being

        ... Whoever builds well becomes a good master builder, and whoever builds badly becomes a bad master builder. If it were not so, there would be no need for a teacher, but everyone would come into the world as a master or as a bungler. It is just the same with the virtues. ... We become manly or cowardly through our behavior in dangers and the habit of fearing or defying them. And it is quite the same with occasions of desire or anger: some become temperate and meek, others unbridled and irascible, according as they behave thus or thus in such cases; in a word, the same habitus grows out of the same activities.  Therefore, we must make an effort to give our activities a certain character; for according to this character the habitus is formed. And therefore everything depends on whether one is accustomed to this or that from one's youth; rather, a great deal, or rather, everything depends on this.

 

Aristotle (384-322 B.C.), Nicomachean Ethics, 1103 a/b  

 

    True humanity is a cultural achievement of the individual and not a natural fact.  Whoever wants to be a true human being must practice it like the "good master builder".  Only in inner struggle can the individual create true humanity - every day anew in the here and now.  This requires solid knowledge and practice as in any other profession. More than 2300 years ago, Aristotle carefully observed the characteristics of his fellow human beings for this purpose and systematized his findings in the Nicomachean Ethics. In doing so, he determined that there is a right measure, an excess and a deficiency of approximately every human characteristic.

 

"Excessive physical exercises as well as insufficient ones lead to the loss of physical strength. Similarly, excess or insufficient measure of food and drink corrupts health, while the right measure produces, strengthens and preserves it.  It is the same with temperance, fortitude and the other virtues.  The one who flees and fears everything and endures nothing becomes cowardly, while the one who fears nothing at all and opposes everything becomes foolhardy. Similarly, he who enjoys every pleasure and abstains from none becomes self-indulgent, but he who flees every pleasure, like the sour-headed people, falls into a kind of stupor. For temperance and strong-mindedness are annulled by too much and too little, but are preserved by the right middle." ibid, 1104 a 

 

    Aristotle's insights formed the philosophical basis for the canon of the 12 virtues to strive for and the 7 deadly sins to avoid, used for centuries in the Christian world.  In words, but above all in the images of the churches, these contents were omnipresent to the people.  In them they could find orientation for their individual development to true humanity.  It is self-evident that such knowledge has been and can be abused.  For man is not a programmed automaton, but always carries in his soul the possibility of choice to realize the middle or one of the two shadow sides. In our context we consider above all the development path consciously chosen from the I to the light sides, without losing sight of the shadow sides.

 

    Aristotle came to the knowledge of human virtues and vices on the way of sober observation of his fellow men.  Building on this, one can just as systematically go one step further today.  For one can not only perceive man sensually, but learn to "look at him aurally" and understand him on the basis of the systematics of the whole man as presented in Anthroposophy.  The gain for each individual is:

 

1. to acquire a concrete, holistic view of the human being

2. to train a broad knowledge of the human being

3. to find orientation for one's own development

4. to arrive at experienced cognition

5. to be able to develop creative and independent ideas for pedagogy, therapy, art, self-development etc., which arise from the concrete view of the individual human being

6. to be able to train oneself systematically in the PROFESSION OF HUMAN BEING.