Franz Marc (1880-1916) • Turm der blauen Pferde (1913) • verschollen
Franz Marc (1880-1916) • Turm der blauen Pferde (1913) • verschollen

Thema Hellsehen

… Bei Menschen, welche den Erlebnissen des in einem späteren Kapitel dieses Buches geschilderten »Erkenntnis-Pfades« vorerst ferne stehen, können sich Mißverständnisse ergeben über die Wesenheit dessen, was hier als »Aura« geschildert wird. Man kann zu der Vorstellung kommen, als ob dasjenige, was hier als »Farben« geschildert wird, vor der Seele so stünde, wie eine physische Farbe vor dem Auge steht. Eine solche »seelische Farbe« wäre aber nichts als eine Halluzination. Mit Eindrücken, die »halluzinatorisch« sind, hat die Geisteswissenschaft nicht das geringste zu tun. Und sie sind jedenfalls in der hier vorliegenden Schilderung nicht gemeint. Man kommt zu einer richtigen Vorstellung, wenn man sich das folgende gegenwärtig hält. Die Seele erlebt an einer physischen Farbe nicht nur den sinnlichen Eindruck, sondern sie hat an ihr ein seelisches Erlebnis. Dieses seelische Erlebnis ist ein anderes, wenn die Seele – durch das Auge – eine gelbe, ein anderes, wenn sie eine blaue Fläche wahrnimmt. Man nenne dieses Erlebnis das »Leben in Gelb« oder das »Leben in Blau«. Die Seele nun, welche den Erkenntnispfad betreten hat, hat ein gleiches »Erleben in Gelb« gegenüber den aktiven Seelenerlebnissen anderer Wesen;  ein »Erleben in Blau« gegenüber den hingebungsvollen Seelenstimmungen. Das Wesentliche ist nicht, daß der »Seher« bei einer Vorstellung einer anderen Seele so »blau« sieht, wie er dies »blau« in der physischen Welt sieht, sondern daß er ein Erlebnis hat, das ihn berechtigt, die Vorstellung »blau« zu nennen, wie der physische Mensch einen Vorhang z.B. »blau« nennt. Und weiter ist es wesentlich, daß der »Seher« sich bewußt ist, mit diesem seinem Erlebnis in einem leibfreien Erleben zu stehen, so daß er die Möglichkeit empfängt, von dem Werte und der Bedeutung des Seelenlebens in einer Welt zu sprechen, deren Wahrnehmung nicht durch den menschlichen Leib vermittelt ist. Wenn auch dieser Sinn der Darstellung durchaus berücksichtigt werden muß, so ist es für den »Seher« doch ganz selbstverständlich, von »blau«, »gelb«, »grün« usw. in der »Aura« zu sprechen

»Theosophie«   IV. Die drei Welten, 

6. Von den Gedankenformen und der menschlichen Aura, 6. Absatz

 

…Hellsehen muß ergänzt werden durch eine klare Beurteilung des in der übersinnlichen Welt Geschauten. Diese Notwendigkeit ist in höchstem Maße gerade für unsere Zeit vorhanden. Sie war nicht in gleichem Maße zu allen Zeiten zu berücksichtigen. Geht man zurück in sehr alte Menschheitskulturen, so findet man andere Verhältnisse. Wenn im ältesten Ägypten ein Mensch hellsehend war, und es trat ihm eine Wesenheit der übersinnlichen Welt entgegen, so hatte diese gleichsam an der Stirne geschrieben, wer sie ist. Der Hellsehende konnte sie nicht mißdeuten. Dagegen ist die Möglichkeit des Mißverständnisses gegenwärtig eine sehr große. Während die alte Menschheit dem Reiche der geistigen Hierarchien noch nahe stand und sehen konnte, welchen Wesen sie begegnete, ist die Irrtumsmöglichkeit heute eine sehr große, und der einzige Schutz gegen schwere Schädigung ist nur die Bemühung um solche Vorstellungen und Ideen, wie sie in dem Vorhergehenden angedeutet sind.

Einen Menschen, der in die geistige Welt zu schauen vermag, nennt man in der Esoterik einen »Hellseher«. Aber nur Hellseher sein, ist nicht genug.  Ein solcher könnte wohl sehen, aber nicht unterscheiden. Derjenige, welcher sich die Fähigkeit erworben hat, die Wesen und Vorgänge der höheren Welten zu unterscheiden voneinander, wird ein »Eingeweihter« genannt.  Die Einweihung bringt die Möglichkeit, zu unterscheiden zwischen den verschiedenen Arten von Wesenheiten. 

 »Die geistige Führung des Menschen und der Menschheit«,

Rudolf Steiner GA 15  S. 56